Persönlichkeitsstörung Borderline

Ritzen, Verbrennen, Schlagen: warum sich Borderline-Betroffene selbst verletzen!

Wenn Menschen mit Borderline-Störung sich selbst verletzen ist das für Außenstehende unverständlich. Doch warum ritzen, verbrennen, schneiden, kratzen sich die  Betroffenen? Und wie sollen Freunde und Familie damit umgehen? Unser Experte und Leiter unserer Abteilung Psychotherapie Dr. Christian Klesse gibt Antworten auf diese schwierigen Fragen.

 

Rund 3–4 Millionen Menschen in Deutschland leiden am Borderline-Syndrom. Das Krankheitsbild ist sehr vielfältig und deshalb schwer zu diagnostizieren. Patienten mit Borderline-Störung nutzen häufig ungewöhnliche Methoden, um mit ihren starken Emotionen umgehen zu können: sie verletzen sich selbst. Ritzen ist eine der bekanntesten Formen der Selbstverletzung. Betroffene „ritzen“ oder schneiden sich mit Rasierklingen, Glasscherben, Nägeln oder anderen scharfen Gegenständen tief in die Haut, vorwiegend an Armen und Beinen sowie im Bereich der Brust und des Bauches. Auch Verbrennungen, Verätzungen oder Schläge gegen die Wand kommen bei selbstverletzendem Verhalten vor. Die Selbstverletzung verschafft ihnen Erleichterung und mildert ihren negativen Gefühlszustand. Einige Betroffene zeigen ihre Wunden und Narben ganz offen, andere verstecken sie unter langer Kleidung. Bei Angehörigen und Freunden bleibt nur eines: die Frage nach dem Warum.

Definition der Borderline-Störung

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist eine Persönlichkeitsstörung, die durch starke Impulsivität und Instabilität von Emotionen, zwischenmenschlichen Beziehungen und der Identität gekennzeichnet ist. Die Borderline-Störung ist ein schwerwiegendes psychiatrisches Krankheitsbild, das auch als emotional instabile Persönlichkeitsstörung bezeichnet wird. Der Begriff emotional instabile Persönlichkeitsstörung bezeichnet langfristige Probleme in der Steuerung von Gefühlen und Anspannungen. Die Auswirkungen reichen von

  • konflikthaften und instabilen zwischenmenschlichen Beziehungen; und/oder
  • Selbstverletzung, Spannungs- und Angstzustände
  • Empfindungen von innerer Leere und Selbstentwertung.

Das Krankheitsbild besteht meist längerfristig und tritt erstmals um das 20. Lebensjahr auf, deshalb spricht man heute von einer Persönlichkeitsstörung.

Die Borderline-Störung hat eine hohe Dunkelziffer. Experten sprechen von ca. 5 % bei Jugendlichen. Doch die Diagnose in jungem Alter und die Abgrenzung zur Pubertätskrise sind schwierig. Denn Borderline hat viele Gesichter: Beziehungen und Selbstbild sind geprägt von Impulsivität und Instabilität.

Was ist selbstverletzendes Verhalten (SVV)?

Unter der Bezeichnung „selbstverletzendes Verhalten“ (SVV) versteht man Handlungen, bei denen es zu einer bewussten Schädigung der Körperoberfläche kommt. Selbstverletzung ist sozial nicht akzeptiert (anders als Tattoos oder Piercings) und steht meistens nicht in Verbindung mit suizidalen (Selbsttötungs-) Absichten. Es gilt nicht als eigenständiges Krankheitsbild, sondern tritt häufig als Symptom der Borderline-Störung oder anderer psychischer Erkrankungen auf. Die häufigste Methode der Selbstverletzung ist Schneiden und Ritzen der Haut. Betroffene können sich aber auch kratzen, beißen oder sogar selbst die Knochen brechen.

Warum verletzen sich Borderline-Patienten selbst?

„Betroffene mit der Borderline-Störung haben ein besonders hohes Risiko, selbstverletzendes Verhalten zu entwickeln“, erklärt Dr. Christian Klesse, der in der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura Betroffene behandelt. „Doch auch Erkrankungen wie Depressionen, Ess-Zwangsstörungen oder Angststörungen können Ursache für Selbstverletzungen sein.“ Nicht jeder junge Mensch, der sich ritzt oder anderweitig verletzt, leidet unter Borderline. „Umgekehrt verletzt sich aber auch nicht jeder Borderliner selbst“, stellt Klesse klar.

Das Leben von Menschen mit Borderline wird oft bestimmt von Panik, Angst, Depressionen und Beziehungsproblemen. Die meisten von ihnen haben Traumata erlitten, viele wurden sexuell missbraucht. Aber auch lange Trennungen oder abweisendes Verhalten von den Bezugspersonen, häufige Umzüge oder lange Klinikaufenthalte und die damit verbundene Ohnmacht können Auslöser sein. Es gibt auch Borderliner, die eine gute Kindheit hatten – aber fast immer steckt eine emotionale Vernachlässigung dahinter. Das Kind fühlte sich nicht gesehen und musste reagieren, um dieses starke negative Gefühl auszuhalten.

Wenn Schmerz Erleichterung verschafft

Borderliner nehmen ihren eigenen Körper nicht so wahr wie gesunde Menschen. Sie verletzen sich selbst, um starke Emotionen abzubauen. Ein Forscherteam aus Mannheim und Heidelberg fand heraus, dass Schmerzen überschießende Reaktionen des Gefühlszentrums der Betroffenen dämpfen. Die Wissenschaftler vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit untersuchten mithilfe der Magnetresonanztomographie (MRT) bei 23 Borderline-Patienten, welche Hirnregionen beim Betrachten negativer und neutraler Bilder aktiviert werden. Nach jedem Bild folgte ein Wärmereiz, der entweder nicht schmerzhaft oder schmerzhaft für den Patienten war. Die Analyse der Aufnahmen ergab, dass Hirnregionen, die an emotionalen Reaktionen beteiligt sind, sowohl bei negativen als auch neutralen Bildern stärker aktiviert werden. Überraschenderweise linderten sowohl die nicht schmerzhaften als auch die schmerzhaften Wärmeimpulse diesen Effekt. „Es ist anzunehmen, dass Schmerz für Borderline-Patienten eine Erleichterung für zu starke Emotionen ist“, erklärt Klesse.

Therapie und Behandlung bei der Borderline-Störung mit Selbstverletzung

Die Vielfalt des Krankheitsbildes ist groß – so wie die Angst davor. Nur ungefähr 30 % aller niedergelassenen Therapeuten ist bereit, mit Borderline-Patienten zu arbeiten. Die wichtigste Komponente einer Behandlung ist die Psychotherapie. Betroffene und Therapeuten versuchen, an den Ursprung der Verletzung zu kommen, die Patienten sollen lernen, Wut, Aggression und andere Gefühle auszuleben und nicht gegen sich selbst zu richten. Betroffene berichten von unterschiedlichsten hilfreichen Methoden:

  • Sport (Joggen, Fahrradfahren)
  • Achtsamkeitsübungen
  • Gefühle kreativ umsetzen (Malen, Schreiben, mit Ton arbeiten)
  • Entspannungstechniken (Yoga)
  • Laut singen
  • Nach draußen gehen und laut schreien
  • Auf ein Kissen einschlagen

Die therapeutischen Verfahren werden je nach Grunderkrankung oder Störung gestaltet. Eine kognitive Verhaltenstherapie zum Beispiel kann dem Betroffenen helfen, neue konstruktive Bewältigungsstrategien für belastende Momente und Erfahrungen zu erlernen und Auslösesituationen zu identifizieren.

 

Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist, dass alle Ausprägungen der Erkrankung des Betroffenen erfasst werden. Zuerst werden Suizidgedanken behandelt sowie Gedanken oder Verhaltensmuster, die den Verlauf der Therapie stören könnten. Je nach individuellem Krankheitsbild werden verschiedene Therapiemethoden kombiniert: Einzel- oder Gruppentherapie, medikamentöse Behandlung oder Krisenintervention.

Wie sollen Angehörige mit der Situation umgehen?

Angehörige von Borderline-Patienten sind oft überfordert. Entweder sie vernachlässigen ihre eigenen Bedürfnisse, um den Erkrankten glücklich zu machen oder sie reagieren mit Ablehnung und Unverständnis. Viele sind verunsichert, wenn der Borderliner sich selbst verletzt oder in Wut ausbricht. Doch Konflikte werden weder durch das eine noch durch das andere Verhalten gelöst. Schon gar nicht ändert sich das Verhalten des Borderliners.

 

Für beide Seiten ist es nicht leicht, mit der Situation umzugehen. „Wichtig ist, dass Eltern und Freunde nicht gegen den Betroffenen arbeiten, sondern mit ihm und das Gespräch suchen“, so Klesse. „Wir bieten immer beiden Seiten Hilfe an. Denn auch die Familien und Partner mussten wahrscheinlich durch leidvolle Momente gehen oder sich mit quälenden Fragen nach der eigenen Schuld auseinandersetzen. Borderline kann therapiert werden, aber nur wenn der Patient es will und auch, wenn er von seinen Angehörigen unterstützt wird.“