28.05.2021

Online-Vortragsreihe „Die Pandemie und ihre Auswirkungen auf unsere Psyche“ der Oberberg Gruppe: „Wenn zwanghaftes Verhalten plötzlich zur Normalität wird – wie wirkt sich die Pandemie auf Zwangsstörungen aus?“

Die Online-Vortragsreihe „Die Pandemie und ihre Auswirkungen auf unsere Psyche“ der Oberberg Gruppe ging am Mittwoch, 19. Mai 2021, in die sechste Runde. Der Vortrag von Priv.-Doz. Dr. Andreas Wahl-Kordon (Hornberg/Schwarzwald/Lörrach) widmete sich Zwangserkrankungen in der Pandemie, einen Schwerpunkt dabei bildete der Waschzwang. Anhand von Fallbeispielen und Studien stellte Dr. Wahl-Kordon die Auswirkungen von Hygienemaßnahmen während der Pandemie auf Zwangsstörungen dar und gab Einblicke aus der Praxis im Hinblick auf Therapiemöglichkeiten. Die Diskussionsrunde im Anschluss des Vortrags wurde von Prof. Dr. Martin Bohus (Mannheim) moderiert.

Die Online-Vortragsreihe läuft noch bis zum 16. Juni 2021. Jeden zweiten Mittwoch von 18:30 bis 20:00 Uhr können Interessierte die Vorträge live über Zoom verfolgen. Die Veranstaltungen der Vortragsreihe sind von der Ärztekammer Berlin mit 2 CME-Punkten pro Teilnahme akkreditiert, die wissenschaftliche Leitung liegt bei Prof. Dr. Dr. Matthias J. Müller (Berlin). Alle Vorträge der Veranstaltungsreihe werden im Nachgang auf YouTube (https://www.youtube.com/watch?v=YNkRuGZtIkY&t=1069s) und in die Mediathek der Oberberg Gruppe (https://www.oberbergkliniken.de/veranstaltungsreihe-pandemie-und-psyche/mediathek) eingestellt. Die Übersicht über die noch folgenden Vorträge und weitere Informationen finden sich auf der Webseite.

 

 

Priv.-Doz. Dr. Andreas Wahl-Kordon ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Schwarzwald sowie stellvertretender Ärztlicher Direktor der Oberberg Tagesklinik Lörrach. Seine wissenschaftliche und klinische Expertise liegt unter anderem bei Angst- und Zwangserkrankungen, die auch den Schwerpunkt seines Vortrags bildeten.

 

Um sich dem Kernthema zu nähern, erklärte Dr. Wahl-Kordon zunächst die Nähe von Zwangsstörungen zu Krankheitsangststörungen, also der Angststörung, an einer schweren Erkrankung zu leiden. Das „Krankheitsvermeidungs-Verhalten“ ist dabei Ausdruck unseres „Verhaltens-Immunsystems“, das den Menschen grundsätzlich vor Erkrankungen schützt. Damit ist gemeint: „Wenn ein Mensch krank ist, kann ich anhand seiner Symptome sehen, dass er krank ist und kann mich entsprechend verhalten. Das haben wir im Zuge der Hygieneregeln während der Pandemie durch Abstandhalten, Händehygiene, usw. kennengelernt“, so Dr. med. Wahl-Kordon.

 

Ein wichtiger Vermittler ist dabei die Emotion Ekel, die unser Krankheitsvermeidungs-Verhalten zentral reguliert. Das Verhaltens-Immunsystem kann jedoch analog zum somatischen Immunabwehrsystem „allergisch“ und damit überempfindlich reagieren. Es kann dabei soziale Einstellungen sowie Interaktionen beeinflussen, aber auch in Zwangsstörungen münden. „Beim Zwang sind die Ängste oft irrational, sie haben oft mit der eigentlichen Bedrohung nicht direkt etwas zu tun“, erläuterte Dr. Wahl-Kordon.

 

Was ist eine Zwangsstörung?

Zwangsstörungen sind durch das Vorhandensein von Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen gekennzeichnet. Zwangsgedanken sind wiederkehrende Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die zeitweise während der Störung als aufdringlich und unerwünscht empfunden werden. Zwangshandlungen sind wiederholte Verhaltensweisen (z.B. Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren) oder gedankliche Handlungen (z.B. Beten, Zählen, Wörter leise wiederholen), zu denen sich Personen als Reaktion auf einen Zwangsgedanken gezwungen fühlen, um den Zwangsgedanken zu neutralisieren („wegzumachen“).

 

„Im klinischen Umfeld sehen wir im Vergleich zu psychischen Erkrankungen allgemein kein allzu großes Vorkommen von Zwangserkrankungen. Dies liegt jedoch daran, dass sie häufig übersehen werden“, so Dr. Wahl-Kordon. Mit Verweis auf eine Studie (Wahl et al., 2010) erläuterte der Experte, dass die Zwangsstörung von etwa zwei Drittel der untersuchten Praxispatienten nicht erkannt, sondern in den meisten Fällen einer anderen psychischen Erkrankung zugeordnet wurden.

 

Um eine Zwangsstörung richtig zu diagnostizieren, seien daher insbesondere Screening-Fragen relevant, wie „Waschen und putzen Sie sehr viel?“, „Kontrollieren Sie sehr viel?“ oder „Brauchen Sie für Alltagstätigkeiten sehr lange?“. Wenn die Screening-Fragen überwiegend positiv beantwortet werden, lohne es sich, in die Tiefe zu gehen. Wichtig ist hierbei der Zeitaufwand der Zwangsgedanken bzw. Zwangshandlungen. „Um die Erkrankung zu diagnostizieren, muss von mindestens einer Stunde täglich gesprochen werden. Nicht jeder Gang zurück, um eine abgeschlossene Tür zu kontrollieren, ist gleich eine Zwangsstörung“, so der Psychiater weiter.

 

Händewaschen

Als bekanntes Beispiel von Zwangserkrankungen ging Dr. Wahl-Kordon im nächsten Schritt auf das Händewaschen ein. Anhand der Hygienemaßnahmen zur Eindämmung der Virusverbreitung in der Pandemie verdeutlichte er dessen Bedeutung im Hinblick auf Zwangserkrankungen.

 

Wo das 30-sekündige Händewaschen bei Personen ohne Zwangserkrankungen der Umsetzung von sozialen und medizinischen Hygieneregeln diene, habe die Kernfunktion des Händewaschens bei Personen mit Zwang deutlich mehr Dimensionen, wie beispielsweise die Reduktion von Angst oder Ekel sowie dem Abbau von Unsicherheit. Dies zeige sich dann in exzessiver Gründlichkeit, Wiederholungen oder Ritualen. „Teilweise verstärkt das Ritual selbst den Zwang, der durch Wiederholungen zu neutralisieren versucht wird. Auch wenn das verstärkte Waschverhalten in der Pandemie nach außen ähnlich aussieht, gibt es dennoch große Unterschiede zu zwanghaftem Händewaschen“, so der Experte.

 

 

Auswirkungen der Pandemie auf Zwangsstörungen

„Entwickeln sich durch die Pandemie mehr Zwangsstörungen?“ war die zentrale Frage des Abends. Um diese Frage zu beantworten, schilderte Dr. Wahl-Kordon anhand eines Patienten-Fallbeispiels die Entstehung einer Zwangsstörung während der Pandemie. Die Angst, sich und andere mit einer Infektion anzustecken, triggerte in diesem Fall Zwangshandlungen, wobei eine depressive Symptomatik schon vor der Pandemie festgestellt werden konnte.

 

„Heute wissen wir, dass Erkrankte mit einer Zwangsstörung unter der Pandemie leiden und sich die Symptomatik verschlechtert, insbesondere bei Kontaminationsängsten und Waschzwang. Dies hat auch mit dem Ausfall von Therapien oder Wartezeiten zu tun“, erläuterte Dr. Wahl-Kordon.

 

Im letzten Schritt seines Vortrags ging Dr. Wahl-Kordon auf die Therapie von Zwangsstörungen in Zeiten der Pandemie ein. So diskutierte er die Einflussfaktoren auf Expositionstherapien aus Therapeuten-, Patienten- und Pandemie-Perspektive und stellte die Ergebnisse einer aktuellen Studie (Storch et al, 2021) vor. „Wer keine erhöhten Risiken durch Covid-Erkrankungen hatte (z.B. durch Vorerkrankungen), konnte erfolgreich therapiert werden. Wer hingegen Risiken hatte, erlebte eher Rückfälle, unter anderem durch Isolation. Folglich gab es weniger Behandlungserfolg“, bilanzierte der Referent die Studie.

 

Die positive Nachricht sei, dass bei Kindern und Jugendlichen trotz Pandemie ein Therapieerfolg festgestellt werden konnte, da sie ihre Übungen weitermachen konnten bzw. weniger gesundheitlicher Gefährdung ausgesetzt waren. Zuletzt verwies der Experte auf die Anpassung der Expositionstherapie im Zuge der Pandemie (z.B. durch Telemedizin, Nutzen-Risiko-Abwägungen im Hinblick auf Ansteckung) und beendete den Vortrag mit einer offenen Frage, ob die Pandemie auch langfristig das Angebot und die Qualität der Expositionstherapie verändern wird. Nach dem Vortrag folgte eine rege Diskussion zwischen den Zuhörerinnen und Zuhörern sowie dem Referenten unter Moderation von Prof. Dr. Bohus.

 

Die Vortragsreihe der Oberberg Gruppe wird am 2. Juni 2021 um 18:30 Uhr von Priv.-Doz. Dr. Andreas Jähne, Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura und der Tagesklinik Lörrach, fortgesetzt. Er widmet sich dem Thema „Suchtmittel als Fluchtversuche aus der Pandemie“. Die darauffolgende Fragerunde wird von Prof. Dr. Falk Kiefer (Mannheim) geleitet. Die Veranstaltungen der Vortragsreihe sind von der Ärztekammer Berlin mit 2 CME-Punkten pro Teilnahme akkreditiert, die wissenschaftliche Leitung liegt bei Prof. Dr. Dr. Matthias J. Müller (Berlin). Anmeldungen für den Zoom-Vortrag sind unter folgendem Link möglich: https://zoom.us/webinar/register/WN_GatmtlwITDyfzQ2II-ZRwQ