09.06.2021

Online-Vortragsreihe „Die Pandemie und ihre Auswirkungen auf unsere Psyche“ der Oberberg Gruppe: „Suchtmittel als Fluchtversuche aus der Pandemie“

Am Mittwoch, 02. Juni 2021, setzte Priv.-Doz. Dr. Andreas Jähne (Bad Säckingen/Lörrach) die Online-Vortragsreihe „Die Pandemie und ihre Auswirkungen auf unsere Psyche“ der Oberberg Gruppe mit seinem Vortrag fort. Er referierte zum Thema Suchtmittel in der Pandemie und fokussierte sich dabei auf Alkohol und pathologischen Medienkonsum. Die Diskussionsrunde im Anschluss des Vortrags wurde von Prof. Dr. Falk Kiefer (Mannheim) moderiert.

Die Online-Vortragsreihe findet seit dem 10. März 2021 im zweiwöchigen Turnus jeweils mittwochs von 18:30 bis 20:00 Uhr live über Zoom statt. Den nächsten und zugleich letzten Vortrag können Interessierte am 16. Juni 2021 verfolgen. Die Veranstaltungen der Vortragsreihe sind von der Ärztekammer Berlin mit 2 CME-Punkten pro Teilnahme akkreditiert, die wissenschaftliche Leitung liegt bei Prof. Dr. Dr. Matthias J. Müller (Berlin). Alle gelaufenen Vorträge der Veranstaltungsreihe sind auf YouTube (https://www.youtube.com/watch?v=Zn2FB3ivuDo&t=4117s) und in der Mediathek der Oberberg Gruppe (https://www.oberbergkliniken.de/veranstaltungsreihe-pandemie-und-psyche/mediathek) zu finden. Die Übersicht über die Vorträge und weitere Informationen finden sich auf der Webseite. Eine Fortsetzung der erfolgreichen Reihe ist geplant.

Priv.-Doz. Dr. Andreas Jähne ist Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura und der Tagesklinik Lörrach. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist u.a. zertifizierter Therapeut für Kognitive Verhaltenstherapie (CBT), Schematherapie (SFT), motivierende Gesprächsführung und alkoholismusspezifische Psychotherapie (ASP). Dr. Jähne ist ausgewiesener Spezialist insbesondere in der Diagnostik und Behandlung von Suchterkrankungen. Die Oberberg Fachklinik Rhein-Jura und weitere Oberberg Kliniken verfügen über eine jahrzehntelange Erfahrung in der Behandlung von Patienten mit stoffgebundenen und nicht stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen.

Alkohol – vom Genuss zum Problem
Alkohol gehört für viele zum Alltag und ist ein Genussmittel, das mit sozialen Kontakten und Geselligkeit verbunden und auch so beworben wird. Einleitend erläuterte der Experte seinen über vierhundert Zuhörerinnen und Zuhörern, wie man den alltäglichen Konsum von einem problematischen Umgang, der auch medizinisch zu Folgeschäden führt, unterscheidet.
„Alkohol ist ein Zellgift, das im Körper Gewebe zerstört. Es gibt so gesehen keinen ungefährlichen Alkohol“, betonte Dr. Jähne. Aus medizinischer Sicht sind bei Männern 24 Gramm und bei Frauen 12 Gramm Reinalkohol pro Tag tolerabel, das entspricht zwei Gläsern Bier zu je 300 ml bei Männern und einem Glas bei Frauen, wenn gleichzeitig mindestens zwei Tage pro Woche pausiert wird. Bleibt man bei solchen Mengen, gilt der Konsum als risikoarm. Riskanter Konsum beginnt über dieser als wenig gesundheitlich bedenklich definierten Schwelle. Rauschtrinken beginnt bei Männern bei fünf Standardgetränken zu einer Gelegenheit, bei Frauen ab vier. Von schädlichem Alkoholkonsum wird gesprochen, wenn nach aufgetretenen, nachweislich psychischen oder physischen gesundheitlichen Folgeschäden durch Alkoholkonsum dieser dennoch fortgesetzt wird.

Dr. Jähne stellte in dem Vortrag die neueste Klassifikation und Diagnostik der Suchterkrankungen nach ICD-11 (Diagnosesystem der WHO, in Deutschland ab 2022 gültig) vor. Diese fasst die Diagnosekriterien in drei Gruppen zusammen:
(1) Die verminderte Kontrollfähigkeit über den Substanzkonsum, bezogen auf Beginn, Menge und Umstände oder Ende des Konsums, verbunden mit dem Drang zu konsumieren
(2) Körperliche Effekte, wie die Entwicklung einer Toleranz auf die Substanz, Entzugserscheinungen nach Konsumstopp oder -reduktion oder eben bewusster Konsum, um Entzugssymptome zu lindern
(3) Substanzkonsum wird fortschreitend Priorität im Leben gegeben. Anderes, wie bspw. Verpflichtungen, Freizeitaktivitäten, Partnerschaft oder Gesundheitspflege oder persönliche Körperpflege, wird ggf. vernachlässigt
Werden zwei der drei Symptomklassen erfüllt, kann man die Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung stellen.

Laut dem DHS Jahrbuch Sucht 2021 sind in Deutschland rund 1,6 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren alkoholabhängig. 1,4 Millionen konsumieren Alkohol missbräuchlich, 6,7 Millionen riskant. Die Folge: 74.000 Todesfälle, die in Deutschland auf Alkohol zurückzuführen sind, und ein volkswirtschaftlicher Schaden von 40 Milliarden Euro pro Jahr. „Alkohol ist eine psychotrope Substanz, Menschen konsumieren sie durchaus, um einen bestimmten Effekt zu erzielen“, erklärte der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. „Suchterkrankungen sind aber multifaktoriell. Es ist nicht nur die Substanz. Man geht bei den Ursachen für Suchterkrankungen mittlerweile unter anderem von einem recht hohen Anteil an Vererblichkeit aus.“
 

Von Euphorie bis Angst
Die Folgen von hohem Alkoholkonsum sind vielfältig: So gibt es neben den als häufig angenehm empfundenen, psychotropen Effekten wie Enthemmung oder Euphorie auch negative wie Angst, Stimmungsschwankungen, beeinträchtigte Selbstkontrolle. Hinzu kommen neurologische Komplikation wie z.B. gestörter Gleichgewichtssinn oder beeinträchtigte Sehfähigkeit, gesundheitliche und auch soziale Folgen. Dazu zählen Unfälle, Straftaten, Gewalttaten, ungewollte Schwangerschaften. Zudem gibt es die psychiatrischen Folgen. „Alkohol und Depression sind sehr eng vergesellschaftet“, so der Experte. Unter den alkoholabhängigen Patienten gibt es ein bis zwei Drittel, die auch an einer Depression leiden. Das Suizidrisiko von Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit ist sechsmal so hoch wie das von einem nicht alkoholabhängigen Menschen.

In Bezug auf die Pandemie ergab eine Befragung nach dem Alkoholkonsum während des ersten Lockdowns ein gemischtes Bild: 41 Prozent tranken gleich viel, bei etwa 21 Prozent war es weniger oder viel weniger. 29,1 Prozent gaben an, mehr zu trinken, bei 8,3 Prozent war es viel mehr und 0,4 Prozent haben begonnen, Alkohol zu konsumieren. Eine Untersuchung zeigt, dass Menschen mit einem erhöhten Alkoholkonsum im Lockdown auch mehr psychiatrische Symptome aufwiesen. Abgefragt wurden Angst und depressive Symptome. Umgekehrt zeigte sich, dass das Wohlbefinden bei Menschen mit erhöhtem Alkoholkonsum abnahm. „Es lässt sich also spekulieren, dass psychiatrische Symptome und vermehrter Alkoholkonsum zusammenhängen“, fasste Jähne zusammen.
 

Pathologischer Medienkonsum und Online-Spielsucht
Neben Alkohol kann auch die Nutzung von Medien zur Sucht werden. 14- bis 69-Jährige sind in Deutschland etwa 713 Minuten täglich mit Massen- und Individualkommunikation beschäftigt. Dabei entfallen 586 Minuten auf Mediennutzung, 127 Minuten werden mit Kommunikation verbracht. In den jugendlichen Altersgruppen ist dieser Anteil deutlich höher. Dem internationalen Diagnosesystem ICD 11 zufolge liegt eine Gaming Disorder vor, wenn folgende drei Kriterien erfüllt sind:
-    Beeinträchtige Kontrolle über das Spiel, z.B. hinsichtlich Beginn, Intensität, Dauer, Häufigkeit, Beendigung
-    Zunehmende Priorisierung des Spielens, dem Spielen wird Vorrang vor anderen Lebensinteressen und alltäglichen Aktivitäten gegeben
-    Fortführen des Spielens trotz des Auftretens negativer Konsequenzen

Das Spielsuchtphänomen beginnt immer mit dem Positiven, Gewinnen macht Spaß, die Person überschätzt sich, die Einsätze steigen. Irgendwann kommt der Verlust. Dies will der pathologische Spieler nicht wahrhaben. Er prahlt mit Gewinnen, verheimlicht Verluste. Es mündet schließlich in der Verzweiflungsphase, in der es nur noch ums Spielen geht und die Auswirkungen so massiv werden, dass die Person sich isoliert bis hin zu psychiatrischen Krisen.

Die DAK Studie Gaming zeigt, dass die Nutzungszeiten von Kindern und Jugendlichen während des Lockdowns deutlich zugenommen haben. Als häufigsten Grund für die Nutzung wurde „Langeweile bekämpfen“ genannt. „Zur Therapie von übermäßigem Medienkonsum gehört unter anderem auch, das Offline-Verhalten durch das Einladen zu anderen Aktivitäten zu stärken. Das Online-Verhalten gilt es zu reduzieren, z.B. durch das Aufstellen von festen Regeln, wie medienfreien Essenszeiten oder die zeitlich begrenzte Mediennutzung“, schloss Dr. Jähne und machte Mut, dass man es mit Geduld aus der Sucht schafft.


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