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Trans-Identität bei Kindern und Jugendlichen: Prävalenz und Evidenz

Das Bewusstsein für die eigene Geschlechtsidentität entwickelt sich bei den meisten Kindern im Vorschulalter. Manche Kinder zeigen schon zu diesem Zeitpunkt eine fehlende Übereinstimmung zwischen dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, und dem, das sie persönlich erleben: Sie sind transident. Von besonderer Bedeutung ist dann die Unterstützung der jungen PatientInnen und die Behandlung des Leidensdrucks, der mit der Trans-Identität einhergehen kann.

 

Überblick: Wann gelten Kinder als transident?

Trans-Identität bezeichnet einen Zustand, in dem ein Mensch sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren kann, dass ihm aufgrund seiner körperlichen Merkmale bei der Geburt zugewiesen wurde. Einige Betroffene identifizieren sich stattdessen mit dem sogenannten Gegengeschlecht, andere finden sich außerhalb der binären Zuordnung wieder. Aufgrund der zunehmenden Präsenz der Thematik Trans-Identität wird in der Wissenschaft mittlerweile vom "bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht" anstelle des "biologischen Geschlechts" gesprochen (Lenzen-Schulte, 2022).

Besonders im Kindes- und Jugendalter unterscheiden ExpertInnen zwischen zwei Formen der Trans-Identität (Frank, 2023). Die sogenannte Geschlechtsinkongruenz bezeichnet eine fehlende Übereinstimmung zwischen dem zugewiesenen und dem empfundenen Geschlecht (Lenzen-Schulte, 2022). Hierbei kann ein trans* Junge beispielsweise lieber mit Jungen spielen und als jungenhaft anerkannte Aktivitäten ausüben, während er das Tragen von Kleidern und klassisch mädchenhaftes Verhalten ablehnt. Eine solche "Jungen- oder Mädchenhaftigkeit" reicht für die Diagnose der Geschlechtsinkongruenz allerdings nicht aus. Stattdessen wünscht oder beteuert das Kind dauerhaft, zu einem anderen Geschlecht zu gehören und lehnt das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht konsequent ab (Bleyel, 2022).

Diese Inkongruenz kann zusätzlich zu einem enormen Leidensdruck führen, wenn das körperliche Missempfinden das Kind oder den Jugendlichen immer wieder in Bedrängnis bringt oder im Alltag eine starke Beeinträchtigung darstellt (Brown, 2021). Dann können trans* Jungen beispielsweise fragen, wann sie endlich einen Penis bekämen, während trans* Mädchen den Wunsch äußern, keinen zu haben (Frank, 2023). In solchen Situationen kann die Diagnose einer Geschlechtsdysphorie angemessen sein. Sie beschreibt nicht nur das Vorhandensein einer geschlechtlichen Inkongruenz, sondern einen zusätzlichen Leidensdruck, der sich oftmals in Form von Depression, Angst und/oder Reizbarkeit äußert (Brown, 2021).

 

Trans-Identität bei Kindern: Das sagen die Zahlen

Kaum ein medizinischer Bereich verzeichnete innerhalb der letzten Dekade einen so hohen Prävalenzanstieg wie der der geschlechtlichen Identität (Lenzen-Schulte, 2022). ExpertInnen vermuten, dass hierfür die gesellschaftliche und mediale Präsenz der Thematik in Verbindung mit den besseren Informationsmöglichkeiten durch das Internet und die steigende Akzeptanz verantwortlich sind. Je früher Kinder und Jugendliche mit dem Begriff der Trans-Identität vertraut werden, desto früher können sie sich outen (Frank, 2023).

Dennoch sind deutlich weniger Menschen betroffen als angenommen. Der Verein dgti (Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität) vermutet eine Prävalenz von etwa 0,6 Prozent der deutschen Bevölkerung (Frank, 2023). In klinischen Sprechstunden stellen sich zurzeit mehr transmaskuline Personen vor als transweibliche, etwa ein Drittel der Betroffenen identifiziert sich als nichtbinär. Für die vorgestellten Kinder gilt beim Übergang ins Jugendalter eine Persistenz von etwa 15 Prozent, der Rest der PatientInnen outet sich häufig als homo- oder bisexuell. Im Hinblick auf transidente Jugendliche steigt die Persistenz tendenziell an (Bleyel, 2022).

Die häufige Überzeugung, alle Menschen mit Trans-Identität wollten sich geschlechtsangleichenden Operationen unterziehen, stellt ein Irrtum dar. Insbesondere vor dem 18. Geburtstag drängen die wenigsten trans* Personen auf eine Operation. Der Gedanke an die Einnahme von Hormonen oder Pubertätsblockern ist bei den Jugendlichen deutlich beliebter, wird jedoch ebenso selten in die Realität umgesetzt (Frank, 2023).

 

Trans-Identität ist keine Erkrankung, kann jedoch Krankheiten auslösen

Trans-Identität ist weder eine psychische noch eine körperliche Erkrankung, sie kann jedoch einen erheblichen Leidensdruck auslösen. Dieser kann durch die Geschlechtsinkongruenz oder -dysphorie begründet sein, aber auch durch die Stigmatisierung transidenter Menschen in der Gesellschaft. Ausgrenzendes, pathologisierendes und feindliches Verhalten gegenüber trans* Personen ist durch die gängige Unterscheidung in "normal" und "nicht normal" auch in Deutschland noch an der Tagesordnung (Schinzler, 2018).

 

Hohe Stressbelastungen für transidente Kinder und Jugendliche

Da Kinder und Jugendliche besonders von den Reaktionen ihrer Familie, Freunde und Mitschüler abhängig sind, stellen sie unter den transidenten Personen eine besonders vulnerable Gruppe dar. Erfahren sie in diesen Bereichen größtenteils Anerkennung und Unterstützung, unterscheidet sich das Stresslevel oftmals nicht signifikant von dem der Altersgenossen (Schinzler, 2018). Überwiegen jedoch negative Erfahrungen, können die Kinder eine dauerhafte Ängstlichkeit und Wachsamkeit entwickeln. Diese kann wiederum zu Schlafstörungen, Burnout und anderen stressbedingten Erkrankungen führen (Kasprowski et al., 2021).

Zudem kann die fehlende Übereinstimmung der erlebten Identität mit den körperlichen Merkmalen für wütende und verzweifelte Gefühle sorgen (Brown, 2021). Besonders während der Pubertät steigt der Leidensdruck vieler transidenter Jugendlicher: Können Kinder sich allein durch Kleidung und Frisur geschlechtsunspezifisch präsentieren, sorgen die körperlichen Veränderungen der Pubertas für ein vergleichsweise eindeutiges Bild, das bei Jugendlichen mit Trans-Identität stark von ihrer eigenen Empfindung abweicht (Frank, 2023).

 

Transidente Kinder und Jugendliche sind häufiger psychisch krank

Die Stigmatisierung der Trans-Identität und das Leiden unter dem eigenen Körper können extreme psychische Auswirkungen haben. So fühlen sich transidente Jugendliche häufiger einsam, ängstlich und schuldig als ihre Altersgenossen (Schinzler, 2018). Etwa die Hälfte der Betroffenen leidet unter Depressionen und selbstverletzendem Verhalten (Bleyel 2022), auch Angststörungen sind weit verbreitet (Kasproswki et al., 2021). Schlussendlich kann der Schmerz lebensbedrohlich werden: Laut einer französischen Studie hatten 69 Prozent der befragten Jugendlichen bereits Suizidgedanken, die durch das von der Transidentität ausgelöste Leid zustande kamen (Schinzler, 2018).

 

Unterstützung durch Psychotherapie: Das brauchen transidente Kinder

Das Bewusstsein für Trans-Identität und somit auch die Zahl der Kinder, die sich als betroffen outen können, steigt stetig. Aus diesem Grund verabschiedete der Deutsche Ethikrat im Jahr 2020 eine Empfehlung für das Thema. Laut dieser steht im Umgang mit transidenten Kindern und Jugendlichen deren allgemeines Persönlichkeitsrecht im Vordergrund, also ihr Recht, in ihrer subjektiv empfundenen Identität anerkannt zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für PsychotherapeutInnen, die mit betroffenen Kindern arbeiten (Sonnenmoser, 2020).

 

So können Psychotherapeuten transidenten Kindern helfen

ExpertInnen sind sich darüber einig, dass die Therapie transidenter Kinder und Jugendlicher in erster Linie psychologisch erfolgen muss (Lenzen-Schulte, 2022). Hierzu gehört zunächst der Ausschluss einer Differentialdiagnose wie beispielsweise einer Persönlichkeitsstörung, einer psychotischen Erkrankung oder einer somatischen Störung (Bleyel, 2022).

Anschließend sind TherapeutInnen dafür zuständig, die Kinder und Jugendlichen bei der Auseinandersetzung mit ihrer Identität zu unterstützen. Sie können komorbide Störungen wie Depressionen oder selbstverletzendes Verhalten behandeln und den PatientInnen dabei helfen, mit den Auswirkungen der Stigmatisierung umzugehen (Brown, 2021). Zusätzlich können ExpertInnen den Betroffenen Anlaufstellen vermitteln und eine Alltagserprobung ihrer Identität begleiten.

FAQ: Trans-Identität bei Kindern

Der Verein dgti geht davon aus, dass in Deutschland weniger als 0,6 Prozent der Menschen transident sind (Frank, 2023). Wie viele Kinder und Jugendliche betroffen sind, ist deutlich schwerer einzuschätzen, da nur 15 % der Kinder ihre Trans-Identität bis ins Jugendalter beibehalten. Jugendliche hingegen verfügen über eine deutlich höhere Persistenz (Bleyel, 2022).

 

Sind transidente Kinder immer psychisch krank?

Trans-Identität ist keine psychische Erkrankung, kann jedoch einen hohen Leidensdruck erzeugen (Schinzler, 2018). Dieser kann wiederum zu Depressionen, selbstverletzendem Verhalten (Bleyel, 2022) oder Angststörungen führen (Kasprowski et al., 2021). Hierbei sind transidente Kinder, die in ihrem familiären und schulischen Umfeld Unterstützung und Anerkennung erfahren, nicht häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen als ihre Altersgenossen (Schinzler, 2018).

Was kann eine Therapie für Kinder mit Trans-Identität tun?

TherapeutInnen können Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, mit den negativen Konsequenzen ihrer Trans-Identität leben zu lernen. Dazu zählen einerseits die Diskriminierung von Seiten der Gesellschaft und andererseits die Behandlung damit einhergehender Erkrankungen (Brown, 2021).

Sonnenmoser, M. (2020) Transidentität bei Kindern und Jugendlichen: Im falschen Körper geboren. https://www.aerzteblatt.de/archiv/215579/Transidentitaet-bei-Kindern-und-Jugendlichen-Im-falschen-Koerper-geboren
Rauchfleisch, U. (2018) Medizinische Einordnung von Trans*Identität. https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/geschlechtliche-vielfalt-trans/245353/medizinische-einordnung-von-trans-identitaet/
Frank, D. (2023) Wie man trans* Kinder begleitet. https://www.apotheken-umschau.de/gesund-bleiben/psyche/trans-kinder-im-falschen-geschlecht-934355.html
Lenzen-Schulte, M. (2022) Transition bei Genderdysphorie: Wenn die Pubertas gestoppt wird. https://www.aerzteblatt.de/archiv/228699/Transition-bei-Genderdysphorie-Wenn-die-Pubertas-gestoppt-wird
Bleyel, C. (2022) Diversität, Trans*identität und Geschlechtsinkongruenz im Kindes- und Jugendalter. https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/klinikschule/Dateien/2022/Geschlechtsinkongruenz_Handout.pdf
Schinzler, N. (2018) Zur Situation von trans* Kindern und Jugendlichen - insbesondere in Familie und Schule. https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/geschlechtliche-vielfalt-trans/269316/zur-situation-von-trans-kindern-und-jugendlichen-insbesondere-in-familie-und-schule/
Brown, G. (2021) Genderdysphorie. https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/psychische-störungen/sexualität-geschlechtsdysphorie-und-paraphilias/genderdysphorie
Oberhofer, E. (2021) Suizidgefahr bei Jugendlichen mit Transidentität erhöht. https://www.springermedizin.de/kongress-fuer-kinder--und-jugendmedizin-2021/transsexualismus/suizidgefahr-bei-jugendlichen-mit-transidentitaet-erhoeht/19760442
Kasprowski, D., Fischer, M., Chen, X., De Vries, L., Kroh, M., Kühne, S., Richter, D. & Zindel, Z. (2021) Geringere Chancen auf ein gesundes Leben für LGBTQI*-Menschen. https://www.diw.de/de/diw_01.c.810358.de/publikationen/wochenberichte/2021_06_1/geringere_chancen_auf_ein_gesundes_leben_fuer__lgbtqi_-menschen.html

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