Krankheitsbilder

Flexibilisierung der Arbeitszeit und psychische Gesundheit

Insbesondere Schlafstörungen, Burnout und Anpassungsstörungen mit Angst- und Depressionssymptomen, erhöhter Reizbarkeit und eine deutlich reduzierte Lebensqualität sind typische psychische Reaktionen auf anhaltende Belastungen und gelten, wenn sie nicht bereits eine Behandlung erfordern, als Risiko für weitere seelische und körperliche Erkrankungen. 

Bei der Diskussion um eine weitere Flexibilisierung von Arbeitszeiten stellt sich daher nicht zuletzt die Frage nach den Auswirkungen auf das Stresserleben und die Gesundheit insgesamt. Es kann aus medizinischer Sicht keine einfache Antwort auf diese Frage geben. Wissenschaftliche und klinische Erkenntnisse können jedoch Hinweise geben, deren Berücksichtigung erwogen werden sollte.

Zunächst ist festzustellen, dass in den letzten Jahren – nicht nur in Deutschland – einerseits die Flexibilisierung der Arbeitszeiten stattgefunden hat und zeitlich parallel Arbeitsunfähigkeitszeiten und Frühberentungen wegen psychischer Erkrankungen zugenommen haben. Sicherlich ist kein Kausalzusammenhang zwischen beiden Phänomenen nachweisbar, gleichwohl scheint eine „Flexibilisierung der Arbeitszeit“ per se nicht zur Prävention von Burnout und stressbedingten Erkrankungen geeignet zu sein.

Was können wir aus der seitherigen Forschung und den Entwicklungen der Arbeitsgestaltung lernen?

Die reine Länge der Arbeitszeit (Stunden pro Woche) ist kein guter Indikator für die subjektive Belastung (Bsp. Selbstständige). Bei der Flexibilisierung muss zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen, Positionen und Arbeitsaufgaben differenziert werden. 

Subjektiv positive und auch effizienzsteigernde Wirkungen sind für regelmäßige Pausen, Ruhezeiten und das Einhalten von täglichen Schlafdauern nachweisbar. Schichtarbeit und ähnliche Arbeitszeiten sollten wenn überhaupt zeitlich begrenzt und nicht „gegen“ die eigene innere Uhr stattfinden. Zudem sind positive Effekte für „soziale Pausen“ (Mittagspausen mit Kollegen) und kontinuierliche betriebliche verhaltensorientierte Stresspräventionsmaßnahmen nachweisbar.

Auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse wäre eine bessere „Synchronisierung“ von Arbeits- und Ruhezeiten mit der inneren Uhr und sozialen Taktgebern (Familie, Freunde, Freizeitaktivitäten) wünschenswert. Diese Erkenntnisse sprechen für eine individuelle Ausgestaltungsmöglichkeit von Arbeitszeiten.

Aus der Burnout-Forschung wissen wir, dass neben der inhaltlichen Arbeitsanforderung die Kontrollierbarkeit (d.h. der Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsabläufe und den Erfolg), die Rückmeldungsverlässlichkeit („Gratifikation“, d.h. respektvolle und valide Rückmeldungen über Art und Ergebnis der Tätigkeit) sowie vor allem individuelle, persönliche Faktoren (v.a. Vorausgabungsbereitschaft) maßgebliche Faktoren sind, die bei Flexibilisierungen berücksichtigt werden sollten.

Noch komplizierter wird es, wenn man aus den Ergebnissen der wenigen seither durchgeführten Studien zur Burnout-Prävention ableitet, dass letztlich soziales Umfeld, persönliche Lebensumstände und die konkrete, an Personen gebundene betriebliche Situation deutlich größere Einflüsse auf den Erhalt und die Wiederherstellung von Gesundheit zu haben scheint als formale Regelungen und deren Änderungen. Das bedeutet, dass ein willkürlich agierender, zu cholerischen Reaktionen neigender Vorgesetzter meistens die größere Belastung darstellt als unflexible Arbeitszeiten.

Schließlich ist aus der seitherigen Erfahrung und Studien erkennbar, dass nahezu jede betriebliche Veränderung, d.h. auch Flexibilisierungen, zunächst bei vielen Beteiligten Unsicherheit, Angst und nicht selten Widerstand auslösen. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber bei der Umsetzung von Maßnahmen und Neuerungen muss diesem Umstand Rechnung getragen werden.

Implikationen aus stressmedizinischer Sicht

Die komplexen Wechselwirkungen lassen erkennen, dass jede Art von allgemeinen Flexibilisierungsregeln Gewinner, aber auch Verlierer, hervorrufen kann. Eine Flexibilisierung von Arbeit und Arbeitszeiten muss, um belastungsbedingten Erkrankungen vorzubeugen, aus psychomedizinischer Sicht zu einer Verbesserung der individuellen Passung zwischen Arbeitsanforderungen und persönlichen sowie sozialen Abläufen führen, ohne die notwendigen Ingredienzien einer „gesunden Arbeit“ (s. oben) zu vernachlässigen. 

Wenn weitere Flexibilisierungen der Arbeit möglichst keine negativen psychomedizinischen Folgen haben sollen, ist eine „flexible Flexibilisierung“ notwendig: die Tätigkeit und das betriebliche Setting müssen dafür geeignet sein und der jeweilige Mitarbeiter muss dafür geeignet und (vor)bereit(et) sein. Mit einer Wahlfreiheit verbunden wäre auch die Möglichkeit, bei sich verändernden Lebensumständen die Arbeitszeitmodelle zu ändern oder zu weniger flexiblen Zeitmodellen zurückzukehren.

Eine enge und vor allem offene Interaktion zwischen Arbeitgeber, individuellem Arbeitnehmer und auch der Kollegen ist neben einer prinzipiellen Änderungsbereitschaft für Flexibilisierungsvorhaben von fundamentaler Bedeutung für nachhaltig positive Ergebnisse in Hinblick auf die Prävention und Behandlung arbeitsplatzbezogener Gesundheitsprobleme.

Wenn auf nachweislich ungünstige Arbeitszeitmodelle verzichtet wird und die Risiken einer weiteren Arbeitszeitflexibilisierung proaktiv antizipiert und präventiv begleitet werden, können daraus auch Chancen erwachsen. Letztlich ist für viele eine möglichst selbstbestimmte, zum Einzelnen „passende“ Tätigkeit neben den materiellen Aspekten für eine lange Phase des Lebens ein wichtiger Quell für individuelle Zufriedenheit, Selbstwert und seelische Gesundheit.

 

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Matthias J. Müller
Ärztlicher Direktor und Medizinischer Geschäftsführer
Oberberg Kliniken