27.08.2021

Tick oder Störung?

Wenn Zwänge das Leben bestimmen

Hornberg, 27. August 2021. Viele Menschen pflegen gewisse kleine Rituale. So wird der Morgenkaffee etwa nach einer bestimmten Methode zubereitet oder der Koffer auf die immer gleiche Weise gepackt. Diese „Zelebrierungen“ sind in der Regel harmlose Routinen. Werden sie intensiv ausgelebt und dienen dazu, Ängste zu neutralisieren, liegt der Verdacht auf eine Zwangsstörung nahe. „Habe ich den Herd ausgeschaltet?“ oder „Ist die Tür geschlossen?“: Steigt der Zweifel und wird vielfach hintereinander kontrolliert, kann dies das tägliche Leben stark beeinträchtigen. Im Extremfall sind Menschen, die an einer ernsthaften Zwangsstörung oder -erkrankung leiden, kaum oder überhaupt nicht mehr in der Lage, einem geregelten Tagesablauf nachzugehen oder sich zu versorgen. Oft versuchen Betroffene, ihre Zwangshandlungen zu verstecken, was typischerweise zu einer weiteren psychischen Belastung und längerfristig in die soziale Isolation führt.

 

Was ist eine Zwangsstörung?

Zwangsstörungen sind durch das Vorhandensein von Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen gekennzeichnet. Zwangsgedanken sind wiederkehrende Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die zeitweise während der Störung als aufdringlich und unerwünscht empfunden werden. Zwangshandlungen sind wiederholte Verhaltensweisen (z.B. Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren) oder mentale (rein gedankliche) Handlungen (z.B. Beten, Zählen, Wörter leise wiederholen), zu denen sich Personen als Reaktion auf einen Zwangsgedanken gezwungen fühlen, um diesen zu neutralisieren.

„Im klinischen Umfeld sehen wir im Vergleich zu psychischen Erkrankungen allgemein kein allzu großes Vorkommen von Zwangserkrankungen. Dies liegt jedoch daran, dass sie häufig übersehen werden“, sagt Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Wahl-Kordon, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Schwarzwald sowie stellvertretender Ärztlicher Direktor der Oberberg Tagesklinik Lörrach. Einer Studie zufolge (Wahl et al., 2010) wurde die Zwangsstörung bei etwa zwei Dritteln der untersuchten Patientinnen und Patienten nicht erkannt, sondern in den meisten Fällen einer anderen psychischen Erkrankung zugeordnet. Um eine Zwangsstörung richtig zu diagnostizieren, seien daher insbesondere Screening-Fragen relevant, wie „Waschen und putzen Sie sehr viel?“, „Kontrollieren Sie sehr viel?“ oder „Brauchen Sie für Alltagstätigkeiten sehr lange?“. Wenn die Screening-Fragen überwiegend positiv beantwortet werden, lohne es sich, in die Tiefe zu gehen. Wichtig ist hierbei der Zeitaufwand der Zwangsgedanken bzw. der Zwangshandlungen. „Um die Erkrankung zu diagnostizieren, muss von mindestens einer Stunde täglich gesprochen werden. Nicht jeder Gang zurück, um eine abgeschlossene Tür zu kontrollieren, ist gleich eine Zwangsstörung“, so der Psychiater.

 

Händewaschen – Übergang von der Alltags- zur Zwangshandlung

Ein bekanntes Beispiel von Zwangserkrankungen ist das Händewaschen. Seit Beginn der Corona-Pandemie kommt dieser Hygienemaßnahme zur Eindämmung der Virusverbreitung eine große Bedeutung zu. Wo das 30-sekündige Händewaschen bei Personen ohne Zwangserkrankungen der Umsetzung von Hygieneregeln dient, hat die Kernfunktion des Händewaschens bei Personen mit Zwang deutlich mehr Dimensionen, beispielsweise die Reduktion von Angst oder Ekel sowie den Abbau von Unsicherheit. Dies zeigt sich dann in exzessiver Gründlichkeit und Wiederholungen. „Teilweise verstärkt das Ritual selbst den Zwang, der durch Wiederholungen zu neutralisieren versucht wird. Auch wenn das verstärkte Waschverhalten in der Pandemie nach außen ähnlich aussieht, gibt es dennoch große Unterschiede zu zwanghaftem Händewaschen“, so Dr. med. Wahl-Kordon. „Heute wissen wir, dass Erkrankte mit einer Zwangsstörung unter der Pandemie leiden und sich die Symptomatik verschlechtert, insbesondere bei Kontaminationsängsten und Waschzwang. Dies hat auch mit dem Ausfall von Therapien oder Wartezeiten zu tun“, erläutert der Experte.

 

Überempfindliches Verhaltens-Immunsystem

Auch das eigene Verhaltens-Immunsystem eines Menschen kann die Entstehung einer Zwangsstörung begünstigen. Das Verhaltens-Immunsystem hat die Aufgabe, vor Erkrankungen durch entsprechende Maßnahmen, dem Krankheitsvermeidungs-Verhalten, zu schützen. „Wenn ein Mensch krank ist, kann ich anhand seiner Symptome sehen, dass er krank ist und kann mich entsprechend verhalten. Das haben wir während der Pandemie durch Abstandhalten, Händehygiene usw. kennengelernt“, erklärt Dr. med. Andreas Wahl-Kordon. Ein wichtiger Vermittler ist dabei die Emotion Ekel, die unser Krankheitsvermeidungs-Verhalten zentral reguliert. Das Verhaltens-Immunsystem kann jedoch analog zum somatischen Immunabwehrsystem „allergisch“ und damit überempfindlich reagieren. Es kann soziale Einstellungen sowie Interaktionen beeinflussen, aber auch in Zwangsstörungen münden. „Beim Zwang sind die Ängste oft irrational, sie haben häufig mit der eigentlichen Bedrohung nicht direkt etwas zu tun".

 

Therapie von Zwangsstörungen

Die psychotherapeutische Behandlung von Zwangserkrankungen basiert vor allem auf der kognitiven Verhaltenstherapie. Dabei werden Patientinnen und Patienten mit den Reizen, die bei ihnen die jeweilige Zwangsstörung auslösen, konfrontiert. Die Intensität der Konfrontationsübungen bei Zwangsstörungen wird schrittweise und kontrolliert gesteigert. „Hierbei spielt die vertrauensvolle Beziehung zwischen Patientinnen und Patienten und ihren Therapeutinnen und Therapeuten eine entscheidende Rolle“, erklärt Dr. med. Wahl-Kordon. „Die Übungen kosten vielen Patientinnen und Patienten eine enorme Überwindung. Die Betroffenen lernen aber, die dem Zwang zugrunde liegenden aversiven Gefühle wie Angst oder Ekel zu regulieren.“ Die Chance, die Zwänge dadurch loszuwerden oder zumindest stark zu verringern, sei sehr hoch.

 

Mehr Informationen zu Zwangsstörungen sind auf der Website der Oberberg Kliniken zu finden: https://www.oberbergkliniken.de/krankheitsbilder/zwangsstoerung

Ein Vortrag von Dr. med. Wahl-Kordon im Rahmen der Online-Vortragsreihe „Die Pandemie und ihre Auswirkungen auf unsere Psyche“ der Oberberg Kliniken ist nachzuschauen in der Mediathek: https://www.oberbergkliniken.de/veranstaltungsreihe-pandemie-und-psyche/mediathek

Mehr zum Thema ist von Dr. med. Wahl-Kordon auch zu lesen im Kapitel „Zwangsstörungen: aktueller Wissensstand zur Diagnostik und Therapie und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie“ des Buchs „Psychische Erkrankungen – und die Auswirkungen einer Pandemie“ vom Elsevier Verlag, herausgegeben von Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Matthias J. Müller und Prof. Dr. med. Mathias Berger.

 

Über die Oberberg Gruppe: Die Oberberg Gruppe mit Hauptsitz in Berlin ist eine vor mehr als 30 Jahren gegründete Klinikgruppe mit einer Vielzahl an Fach- und Tageskliniken im Bereich Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an verschiedenen Standorten Deutschlands. In den Kliniken der Oberberg Gruppe werden Erwachsene, Jugendliche und Kinder in individuellen, intensiven und innovativen Therapiesettings behandelt. Darüber hinaus existiert ein deutschlandweites Netzwerk aus Oberberg City Centers, korrespondierenden Therapeuten und Selbsthilfegruppen.
 

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