Stress- und Traumafolgestörungen

Interview aus der BZ: Bad Säckinger Todesfahrt – Wie verarbeiten Opfer solche Tragödien?

Interview aus der BZ mit Dr. Andreas Jähne: 

Vor Gericht wird derzeit die Todesfahrt in der Bad Säckinger Fußgängerzone verhandelt. Wie verarbeiten die Opfer solcher Tragödien ihre Erlebnisse? Ein Interview mit einem Therapeuten.

Am Dienstag, den 9. Mai 2017  war der zweite Verhandlungstag im Prozess gegen den Unfallfahrer von Bad Säckingen. Die mediale Aufmerksamkeit für den Angeklagten ist groß. Doch wie verarbeiten die Opfer solcher Tragödien ihre Erlebnisse? Felix Held hat darüber mit Andreas Jähne, dem Ärztlichen Direktor der Bad Säckinger Rhein-Jura-Klinik gesprochen. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, die Klinik ist die zweitgrößte private Akutklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland.

BZ: Herr Jähne, gleich nach dem Unfall hatten Sie den Betroffenen angeboten, dass sie sich kostenlos an die Rhein-Jura-Klinik wenden können, um den Schrecken zu verarbeiten. Wurde das Angebot in Anspruch genommen?
Jähne: Ja, das wurde sehr gut angenommen. Es waren etliche Betroffene da. Wir haben den Opfern eine unkomplizierte Beratung angeboten. Sie konnten mit Kollegen sprechen, die fachlich fundiert geholfen haben. Uns war es wichtig, dass die Betroffenen schnell Hilfe bekamen.

BZ: Warum ist schnelle Hilfe wichtig?
Jähne: Es ist bekannt, dass man dadurch viele Auswirkungen solcher traumatischen Erlebnisse abfedern kann. Wir hatten allerdings keine Psychotherapie angeboten, sondern eine Beratung. Dabei haben wir geschaut, wer hat ein Problem und wen müssen wir weitervermitteln – zum Beispiel an die richtige Therapie oder den Hausarzt. Für diejenigen, die zu uns gekommen sind, haben wir bis zu drei Beratungsgespräche angeboten. Ich hatte den Eindruck, dass die Leute sehr dankbar für unsere Hilfe waren.

BZ: Wer hat sich an Sie gewendet? Hauptsächlich Opfer oder auch Rettungskräfte?
Jähne: Sowohl als auch. Es sind hauptsächlich Augenzeugen oder Beteiligte gekommen, die in dem Café gesessen sind. Aber auch Angehörige der Rettungskräfte haben Hilfe gesucht. Konkret ist zum Beispiel das DRK im Nachgang nochmal auf uns zugekommen. Die Rettungskräfte haben oft ein Riesenproblem, weil sie die Toten und Verletzten gesehen haben und versorgen mussten. Dabei erleben sie oft die eigene Hilflosigkeit, dass sie nicht jedem helfen konnten. Das kann sehr belastend sein. Ich möchte an dieser Stelle nochmal betonen, was mir die Rettungskräfte, aber auch viele Opfer bestätigt haben: Der Einsatz der Hilfskräfte lief bei dem Unfall in Bad Säckingen sehr professionell und geordnet ab. Es wurde schnell und effizient geholfen.

BZ: Wie reagieren die Beteiligten auf solche Unfälle?
Jähne: Im ersten Moment sind die Betroffenen sehr verunsichert. Es handelt sich in solchen Fällen um ein lebensbedrohliches Ereignis. Da sind Sie mit der Endlichkeit ihres Lebens konfrontiert und gerade so davongekommen. Vielen geht es unmittelbar danach schlecht. Symptome sind zum Beispiel Schlafstörungen oder Alpträume. Viele sind angespannt und erleben diese Situation richtiggehend wieder. Rettungskräfte sehen beispielsweise die Verletzten vor sich. Diese Bilder kriegen Sie nicht aus dem Kopf. Das belastet die Betroffenen ungemein, sie können sich in der Folge nicht konzentrieren und sind nicht leistungsfähig. Und in ihrer Verunsicherung wissen Sie nicht, wie sie damit umgehen sollen.

BZ: Wie reagieren Sie in solch einer Situation?
Jähne: Es ist wichtig, die Probleme ernst zu nehmen und zu analysieren. Aber auch das Ganze einzuordnen und zu zeigen, dass das alles letztlich eine normale Reaktion ist auf abnormale Situationen. Jeder von uns könnte das erleiden.

BZ: Gibt es auch Menschen, die nach solch einem Erlebnis ohne professionelle Hilfe auskommen?
Jähne: Natürlich bekommt nicht jeder psychische Störungen nach solch einem Unfall. Viele kommen alleine zurecht oder haben im sozialen Umfeld Unterstützung. Wir gehen aber davon aus, dass zwischen zehn und 30 Prozent psychische Probleme entwickeln – das ist nicht wenig. Für diejenigen, die Symptome entwickeln, die nicht schnell wieder verschwinden, ist es wichtig, dass sie schnell professionelle Hilfe bekommen.

BZ: Was passiert, wenn jemand keine Hilfe bekommt?
Jähne: Es gibt zwei große Gefahren. Die eine ist, dass die Symptome chronisch werden. Sprich, dass die Betroffenen über Monate hinweg an den Erlebnissen leiden. Die vermeiden dann – neben den bereits beschriebenen Symptomen – zum Beispiel, in die Stadt zu gehen, weil der Unfall dort passiert ist. Die Lebensqualität und der Aktionsradius werden gemindert. Das andere Problem ist, dass sich auf solche Symptome andere Störungen aufpfropfen können.

BZ: Zum Beispiel?
Jähne: Zum Beispiel eine Depression, eine Panikstörung oder eine Suchterkrankung. Etwa, wenn die Betroffenen versuchen, sich mit Alkohol zu betäuben.

BZ: Wie sieht eine entsprechende Behandlung aus?
Jähne: Man kann mit Medikamenten arbeiten, um Symptome zu lindern. In der Akutphase ist das hilfreich, je nachdem aber auch dauerhaft. Der andere Bereich ist die Psychotherapie. Da gibt es verschiedene Verfahren, von Gesprächstechniken über das Lernen, diese Erinnerungen auszuhalten oder Entspannungsverfahren wie zum Beispiel EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, Anm. d. Red.). Indem die Patienten bewusst bestimmten Blickfolgen folgen, können diese Erinnerungen wieder gelöscht werden. Bei chronisch Kranken kann es sein, dass man sich wieder an den Ort des Geschehens begibt, sich das alles anschaut und lernt, wie die Ängste hochkommen – dass aber nichts mehr passiert. So soll ein Umlernen erreicht werden.

BZ: Wo kann man sich grundsätzlich Hilfe holen?
Jähne: Grundsätzlich ist die Opferhilfeorganisation der Polizei “Weißer Ring” eine gute Anlaufstelle, aber auch der Hausarzt ist eine gute Adresse. Da kann man niederschwellig Hilfe finden.

BZ: Welche Auswirkungen können solche traumatischen Erlebnisse auf die Angehörigen haben?
Jähne: Die Angehörigen leiden meist nicht an den unmittelbaren Traumafolgen. Aber die merken, dass sich der Betroffene verändert – sich zurückzieht, Schlafstörungen bekommt, ängstlich ist oder viel Hilfe und Zuspruch braucht. Das beeinträchtigt auch das Umfeld, weil der Betroffene – auch wenn sich das jetzt doof anhört – nicht mehr funktioniert. Das ist ein großes Thema und nicht harmlos. Oft sind die Angehörigen massiv beeinträchtigt und brauchen genauso Unterstützung. Auch dafür ist der Weiße Ring ein guter Ansprechpartner.

Kontakt zum Weißen Ring in Waldshut-Tiengen: Leiter Siegfried Elis,
E-Mail: siegfried.elis(at)gmail.com