Abhängigkeitserkrankungen

“Alkohol macht zum Gollum” Suchtexperte Michael Berner über die fatalen Eigenschaften des Alkohols

Mehr als 60 Millionen Deutsche trinken gerne mal ein Glas Alkohol – 1,3 Millionen kommen nicht mehr davon los. Suchtexperte Prof. Dr. Michael Berner aus Bad Säckingen über die fatalen Eigenschaften des Alkohols.

BZ: Professor Berner, warum ist Alkoholismus eine Krankheit?
Berner: Weil die Menschen ihr Leben nicht mehr selbst im Griff haben, sondern von ihrer Sucht beherrscht werden. Wegen diesem “Verlust der Selbstkontrolle”, der erhebliches Leiden verursacht, hat vor 45 Jahren das Bundessozialgericht die – wie man damals sagte – Trunksucht als Krankheit anerkannt. Nur ist diese Tatsache leider noch viel zu wenig in den Köpfen der Menschen angekommen.

BZ: Warum?
Berner: Wenn sie auf der Straße eine Umfrage machen würden, wäre die häufigste Antwort wahrscheinlich: Wer trinkt, ist selber schuld. Ähnlich sieht das ja auch unser Gesetzgeber, der immer noch einen Strafbestand des schuldhaften Rauschs vorsieht. Sprich: Wenn jemand betrunken eine Straftat begeht, dann kann er zwar – weil nicht mehr zurechnungsfähig – nur eingeschränkt schuldfähig sein, aber er kann dennoch verurteilt werden. Denn laut unserem Bundesgesetzbuch kann auch der Rausch an sich schuldhaft sein, vorausgesetzt der Richter kommt zu dem Schluss, dass der Betreffende diesen Zustand im Wissen um die Konsequenzen herbeigeführt hat. Genau genommen reden wir Psychiater allerdings in diesem Fall nicht von einer Krankheit, sondern von einer Störung.

“Das Trinken ist bei einem Alkoholiker längst keine freie Entscheidung mehr.”

BZ: Und für Sie sollte er als unschuldig gelten?
Berner: Nein, für Fahren unter Alkoholeinfluss gibt es keine Entschuldigung. Und auch der Alkoholiker ist selbst dafür verantwortlich, diese Störung in den Griff zu kriegen. Nur ist das in der Regel nicht so einfach, wie viele sich das vorstellen. Das Trinken ist bei einem Alkoholiker längst keine freie Entscheidung mehr. Viele sind sich sogar der negativen Konsequenzen ihres Alkoholkonsums bewusst und sagen: “Ich würde lieber heute als morgen aufhören.” Aber sie schaffen es nicht, weil das Trinken für sie längst zum Zwang geworden ist, über den sie komplett die Kontrolle verloren haben.

BZ: Woran würde ich merken, dass ich diese Krankheit habe?
Berner: Zum Beispiel, indem ich mir vier Fragen stelle. Die Erste lautet: Hat jemand meinen Alkoholkonsum schon mal kritisiert? Die Zweite: Hatte ich schon einmal das Gefühl, ich sollte eigentlich weniger trinken? Habe ich mich jemals wegen meines Alkoholkonsums schuldig gefühlt?, ist die dritte Frage, die man sich stellen sollte. Und die Vierte: Habe ich schon mal morgens getrunken, um in Schwung zu kommen? Wer eine oder zwei dieser Fragen mit Ja beantworten muss, sollte sich dringend mal Gedanken über sein Trinkverhalten machen. Treffen auf jemanden alle vier Punkte zu, hat er sehr wahrscheinlich ein ernsthaftes Alkoholproblem.

“Alkohol wirkt in unserm Gehirn gleich auf mehrere Systeme gleichzeitig.”

BZ: Und ab wann trinke ich zumindest bedenklich viel?
Berner: 200 Gramm Alkohol pro Woche, das sind zwei Viertel Wein oder ein Liter Bier am am Tag, gelten bei einem Mann als unbedenklich – wenn er in dieser Woche an zwei zusammenhängenden Tagen eine Trinkpause einlegt. Bei der Frau ist es nur halb so viel. Bleibt man innerhalb dieser Grenzen, kann sich eigentlich keine Abhängigkeit entwickeln. Auch die Leber steckt das gut weg. Wer mehr trinkt, hat einen riskanten Konsum, wie ihn wir Fachleute nennen. Damit schwebt er in der Gefahr, abhängig zu werden oder seiner Gesundheit zu schaden.

BZ: Was macht einen Alkoholkranken so süchtig, dass er oft ein Leben lang nicht mehr von der Droge lassen kann?
Berner: Alkohol ist unter anderem deshalb so verführerisch, weil er in unserm Gehirn gleich auf mehrere Systeme gleichzeitig wirkt – im Gegensatz zu vielen anderen Drogen. Zunächst einmal tritt er im Gehirn auf eine Art Beruhigungs-Bremse. Sprich: Während im nüchternen Zustand der Einfluss unseres aktivierenden Glutamat-Systems, des Gaspedals, mit dem hemmenden GABA-System, der Bremse, im Gleichgewicht steht, sorgt der Alkohol dafür, dass das GABA-System die Überhand gewinnt. Das erklärt die beruhigende und stressmindernde Wirkung von Alkohol. Zugleich hemmt er aber auf diese Weise auch die Wahrnehmung von Zeichen, die uns selbst im Normalfall bremsen: Alkohol enthemmt, nimmt einem die Schüchternheit und die Ängste, beruhigt aber auch gleichzeitig die Stimme des Gewissens, was manche Gewalttat im Rausch erklärt. All das geht aber nur so lange gut, bis dem Alkoholiker der Alkohol ausgeht.

BZ: Inwiefern das?
Berner: Um der angezogenen Handbremse entgegenzuwirken, reguliert der Körper eines Alkoholsüchtigen früher oder später das eigene Antriebssystem hoch. Das heißt, ähnlich wie ein Autofahrer drückt er nun selbst ständig aufs Gaspedal. Auch wenn ich mit dem Trinken aufhöre und den Fuß von der Bremse nehme, gibt er weiter Vollgas. Das erklärt die klassischen Entzugssymptome: Ich schwitze, ich zittere, fühle mich elend, im schlimmsten Fall sehe ich dann im Delir die berühmten weißen Mäuse. Die meisten können deshalb dem Drang nicht lange widerstehen, erneut auf die Bremse zu treten und Alkohol zu trinken.

“Das Schlimme am Trinken ist, dass es meine Persönlichkeit verändert.”

BZ: Aber Alkohol macht doch nicht nur ruhig, sondern auch lustig und redselig?
Berner: Wie gesagt, der Alkohol wirkt auf unterschiedliche Arten. Zum Beispiel stimuliert er auch unser Belohnungssystem, und zwar auf ganz ähnlichem Weg wie Opiate und Cannabis. Über dieses System wirkt er eher anregend, steigert die Impulsivität und erzeugt ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit.

BZ: Nur einer von sieben Patienten ist nach einem körperlichen Entzug nach einem Jahr noch trocken. Warum ist die Krankheit so schwer zu heilen?
Berner: Das Schlimme am Trinken ist, dass es meine Persönlichkeit verändert. Der Alkohol macht den Alkoholsüchtigen zu einer Art Gollum, das sein ganzes Leben, ob es will oder nicht, in den Dienst seiner Sucht stellt. So wie Gollum in Tolkiens Herrn der Ringe dem Ring nachläuft und versucht, ihn mit allen Mitteln zurückzubekommen, so dreht sich das Leben des Alkoholikers fast ausschließlich darum, sich Alkohol zu beschaffen. Die Folge ist, dass er sein normales Leben, seine normalen Beziehungen, sein normales Wirken in der Gesellschaft zu Gunsten seiner Sucht vernachlässigt. Ich weiß, ich habe eine Sitzung, die vier Stunden geht. Weil mir klar ist, dass ich das nicht durchstehe, nehme ich einen Flachmann mit, renn dreimal während des Termins raus und bekomme die Hälfte nicht mit. Der Alkohol zwingt mich, alle negativen Konsequenzen zu ignorieren und mich mehr um das Suchtmittel zu kümmern als die meisten anderen Dinge.

“Der schwierigste Schritt ist meist der vom Wollen zum echten Handeln.”

BZ: Aber irgendwann begreift doch wohl auch der Alkoholkranke seine Lage?
Berner: Um beim Herrn der Ringe zu bleiben: Auch Gollum sieht ja, dass er eigentlich lieber Frodo Beutlin unterstützen möchte, aber er schafft es nicht. Auf den Alkohol zu verzichten, kostet jeden Süchtigen eine immense Anstrengung, weil die Sucht so einen breiten Raum eingenommen hat und auch den Körper im Griff hat. Selbst wenn der körperliche Entzug geschafft ist, sind viele schwierige Fragen zu klären: Womit fülle ich den frei werdenden Raum, wenn der Alkohol nicht mehr da ist? Oder: Womit bekomme ich jetzt Belohnung und Entspannung, wenn ich das bisher nur durch das Trinken erreichen konnte? Oder: Ich schäme mich vor so viel Leuten, denen ich wegen des Alkohols Schlechtes getan habe, die ich gekränkt oder im Stich gelassen habe – wie repariere ich meine Beziehungen?

BZ: Und daran scheitern viele?
Berner: Der schwierigste Schritt ist meist der vom Wollen zum echten Handeln: Ich weiß, ich muss etwas ändern, nehme mir auch vor, am nächsten Tag mal nichts zu trinken, aber schaffe es einfach nicht. Die Folge sind natürlich Frustration und Scham. Um wirklich etwas zu ändern, brauchen viele einen Anstoß von außen – zum Beispiel drohende unangenehme Konsequenzen wie der Entzug des “Lappens”. Die wichtigste Veränderungsmotivation ist übrigens die Sorge um die eigene Gesundheit. Einem Betroffenen mit einer schweren Leberzirrhose fällt es in der Regel relativ leicht aufzuhören, weil er konkrete Angst hat zu sterben.

“Das Hinfallen ist nicht das Problem, sondern das Wiederaufstehen.”

BZ: Viele sagen doch: Nicht zu Trinken ist eine Sache der reinen Willenskraft?
Berner: So manch einer glaubt auch, dass die Besteigung des Mount Everest eine Frage des reinen Willens ist. Aber ich brauche auch Training, eine gute Ausrüstung und ein gutes Team, um hochzukommen. Und genauso ist es auch bei der Bekämpfung einer Suchterkrankung.

BZ: Was das Team angeht, haben sie ja gerade in einer Studie gezeigt, dass ein Psychotherapeut in der Regel dabei sein sollte. In Sachen Ausrüstung waren für ihre Patienten oft Tabletten hilfreich. Würden Sie beides allen Patienten empfehlen?
Berner: Beides sollte zumindest jedem Patienten, der den körperlichen Entzug hinter sich hat, angeboten werden. Aktuell setzen nur 20 Prozent aller Ärzte Medikamente zur Rückfallverhinderung ein. Und viele behandeln ungern Alkoholpatienten. Was auch daran liegt, dass viele Therapeuten es als ein Riesenproblem sehen, wenn ein Patient einen Rückfall hat. Dabei gilt auch bei der Alkoholabhängigkeit: Das Hinfallen ist nicht das Problem, sondern das Wiederaufstehen. Der Rückfall ist dann auch immer ein Vorfall und mit dem kann man umgehen.

Der Artikel des Autors Michael Brendler erschien in der “Badischen Zeitung” vom 30.12.2013.
Suchtarzt Berner: “Alkohol macht zum Gollum” (veröffentlicht am Mo, 30. Dezember 2013 08:37 Uhr auf badische-zeitung.de)